Eine Geschichte von Vera Bischofberger, 13 Jahre, Schweiz
Anna berührte die Spiegelfläche. Sie fühlte sich leicht und froh. Die Welt hinter dem Spiegel... sie hatte sie gefunden. Ihre Fingerspitzen glitten durch die silberne flüssige Masse; ertasteten Leere. Den Fingern folgte die Hand, der Arm, die Schulter. Sie hatte keine Angst, sondern fühlte sich vertraut. Es war, als würde sie nach Hause kommen, nur war es eben ein Zuhause, das sie noch nicht kannte. Sie stand in einem Raum, der kein Raum war, meinte schwerelos zu sein, und spürte eine aufgeregte Erwartung in sich kribbeln. Plötzlich stand sie jemandem gegenüber. Sie musterte die Fremde. Sie sahen sich nicht einfach ähnlich, sie waren bis ins kleinste Detail genau gleich, und trotzdem vollkommen anders. Dem Mädchen, dem sie gegenüber stand, konnte man keine Scheu ansehen. Sie strahlte Sicherheit und Ruhe aus. Sie war nicht verschlossen, sass nicht weit entfernt auf einem Glasberg, der aus Träumen bestand, sondern, sie war da. Die vertraute Fremde lächelte, machte einen Schritt auf Anna zu. Anna lächelte ebenfalls und dachte: "so könnte ich sein, und gleichzeitig werde ich nie so sein". Sie streckte den Arm aus, wollte berühren was sie sah. Sie spürte bereits die Wärme der Anderen, als sie gepackt und geschüttelt wurde. "Aufwachen! Du hast verschlafen!" Die Mutter war schon aus dem Zimmer geschwebt, bis Anna begriffen hatte, dass sie in ihrem Bett lag, und alles nur ein wirrer Traum gewesen war, dem sie jetzt nachtrauerte. Sie griff nach ihren Kleidern, stand auf, wollte ins Badezimmer. Anna warf einen Blick auf ihre ungemachten Hausaufgaben: Deutsch, schreib je zwei Beispiele zu den fünf verschiedenen Reimarten. 1.Es tropfen die Tränen. 2... Etwas liess Anna aufblicken. Der Schatten einer Bewegung war in der Luft hängen geblieben. Mit der gewohnten Unsicherheit sah sie sich um, ihr Blick fiel auf den Spiegel. Sie ging näher, sah sich an, und Erstaunen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Der Kälte, die ansonsten in ihren Augen stand, war einer glitzernden Wärme gewichen, die sie zum Lächeln brachte, das nun den Bitteren Zug um ihren Mund vollends zum Verschwinden brachte. Das Spiegelbild zwinkerte ihr zu und wisperte: "Ich hoffe du siehst nun, dass du alles sein kannst, was du sein willst."
[Text wurde geaendert (08:46:24 02.08.2002) von Kidswebautoren]
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