Eine Geschichte von Barthi Fröhlich, 16 Jahre aus Ruhrgebiet - D
Jean
Niemand hatte jemals von Jean Reruet-Neba behauptet, er sei ein ganz gewöhnlicher Junge, und tatsächlich war er es auch gar nicht. Es glich nämlich schon fast einem Wunder, wenn man ihn sprechen hörte, geschweige denn, sah.
Immerzu still, saß er die Unterrichtsstunden in der Schule ab und eilte gleich nach Schulschluss, ohne eine einzige Hausaufgabe vermerkt zu haben, zurück nach Hause. Natürlich spiegelte sich das auch in seinen Noten wieder, denn nicht nur einmal, rief seine Klassenlehrerin, bei ihm Zuhause an. Aber auch sonst, verhielt er sich höchst ungewöhnlich, "nicht normal", wie die meisten seiner Mitschüler zu sagen pflegten und weshalb sie ihn deswegen dauernd aufzogen und ärgerten. Wie ungewöhnlich jedoch er wirklich war, sollte sich erst noch herausstellen.
Jean lebte bei seinem Onkel in einem sehr großen, sehr alten Haus in dem es jeden Morgen, wenn er aufstand, so still war, dass man anfing zu glauben, es hätte noch nie zuvor ein lauteres Geräusch gegeben, als das Ticken der alten Wanduhr in der Eingangshalle. Nichts und niemand rührte sich, alles wirkte wie auf einem schwarzweiß Foto, unbewegt, prüde und traurig, als währe die Zeit einfach stehen geblieben.
Kurz nach Acht, plötzlich, knarrte irgendwo im Haus eine Tür und jemand bewegte sich mit schleifenden Schritten durch den Flur, runter in die Küche. Es war Jean, der immer mal wieder gerne verschlief und dann erst zur zweiten Schulstunde zur Schule ging. Er horchte kurz auf, ob sein Onkel immer noch auf seinem Zimmer war und schnarchte, bevor er sich an den Küchentisch setzte und sich eine Cola-Dose von der Fensterbank nahm.
"Ich hab schon wieder verschlafen", sagte er zu sich selbst, ohne eine Miene zu verziehen. Die Uhr in der Eingangshalle tickte. Das monotone "Ticktack" lies seine Augenlieder wieder schwer werden und er gähnte. Ein anderes Geräusch gesellte sich zum ticken der Uhr dazu, doch er erkannte es zu spät. Sein Onkel betrat die Küche und blieb versteinert stehen.
"Hast du heute keine Schule?", fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
"D. doch", antwortete Jean mit weit aufgerissenen Augen, erschrocken darüber, seinen Onkel so plötzlich in der Küchentür stehen zu sehen. Er bekam es aber noch viel mehr mit der Angst zu tun, als er sah, wie die Gesichtsfarbe seines Onkels zu einem zornigen Rot überwechselte und wie sein Onkel langsam auf ihn zukam.
"Verdammt noch mal!", donnerte sein Onkel los, als er direkt vor ihm stehen blieb,
"Glaubst du vielleicht, es macht mir Spaß, mich andauernd mit deiner fetten Lehrerin zu unterhalten? Findest du nicht, dass du, verdammt noch mal, alt genug bist, um endlich alleine aufzustehen und zur Schule zu gehen?"
Jean war erst letzte Woche 12 Jahre alt geworden
"Verdammt! Du brauchst dich nicht wundern, dass sie dich alle für einen Idioten halten, bei dir in der Klasse. Ich glaube, dir geht es bei mir viel zu gut, was? Kriegst alles umsonst und so. Denkst dir wohl, lass mal den Onkel alles für mich erledigen und so, was? Verdammt noch mal! Damit ist jetzt endgültig Schluss, hast du verstanden?!"
Jean nickte sofort, um keine Zweifel aufkommen zu lassen und sein Onkel stampfte wütend hinaus.
Diese unübertroffene Stille, wie auf einem schwarzweiß Foto, trat wieder ein, doch in Jeans Ohren hallte die Stimme seines Onkel immer noch wieder. Er wagte es kaum sich zu rühren, ihm war kalt und er hörte die Uhr in der Eingangshalle tickten, als wäre nichts passiert. Er hörte eine Weile lang zu, stellte die Cola-Dose wieder zurück auf die Fensterbank und stand auf, warf sich seinen Rucksack um, steckte drei Streifen Kaugummi, die auf der Mikrowelle herumlagen, ein und machte sich schließlich auf den Weg zur zweiten Unterrichtsstunde.
Das Schulgelände war menschenleer. Jean stand mitten drauf und wartete auf den Gong, der die zweite Stunde einleitete. Aus den offenen Fenstern des Schulgebäudes drangen vereinzelte Stimmen von Lehrern und Schülern zu ihm. Das Gewirr aus Stimmen vermischte sich zu einem monotonen Rauschen, dass ihn wieder schläfrig machte und er wäre vielleicht umgekippt, hätte da nicht eine Lehrerin angefangen sich so furchtbar aufzuregen, dass die Fenster, wegen ihrer schrillen Stimme, eigentlich zerspringen müssten. Ihre Klasse nahm kaum Notiz von ihr, sondern lachte schallend. Jemand musste wohl einen guten Witz gerissen haben, einen, den die Lehrerin wohl nicht so gut fand. Verzweifelt schickte die Lehrerin die Klasse schließlich hinaus und sank erschöpft in ihrem Stuhl zurück.
"Jean Reruet-Neba!"
Jean schaute sich, mit Schrecken im Gesicht, auf dem Gelände um. Nur ein ihm unbekannter Lehrer stolperte eine Treppe hoch und verschwand hinter einer Tür, die zu den Toiletten führte. Aus den Fenstern der Klassenräume und aus dem Lehrerzimmer schaute auch niemand, wer also hatte seinen Namen gerufen?
"Jean Reruet-Neba, schlaf nicht ein!" Die Stimme kam ganz aus der Nähe, als würde jemand dicht vor oder hinter ihm stehen, jemand, der unsichtbar sein musste. Jean drehte sich ganz langsam und total irritiert um seine eigene Achse, dabei prüfte er jeden Winkel des Schulhofes noch einmal ganz genau. Es könnte doch sein, dass sich jemand in den Büschen versteckte, oder in den Baumkronen.
Bald erspähte er tatsächlich jemanden. Ein blondes Mädchen, etwas jünger als er selbst, saß auf einer Holzbank, außerhalb des Schulhofes und war in ein altes, in Leder gebundenes Buch, vertieft. Natürlich war es ziemlich unwahrscheinlich, dass sie es gewesen ist, die seinen Namen gerufen hatte, sie saß nämlich viel zu weit weg, als dass er sie gehört hätte, außerdem hatte er nicht die Stimme eines Mädchens gehört, sondern die eines alten Mannes. Eines Mannes, der sich aus welchen Gründen auch immer nicht zeigen wollte. Jean fand, dass es jetzt langsam gruselig wurde und bekam eine Gänsehaut.
"Jean, du armer Irrer!", schrie plötzlich jemand anderes. Diese Stimme erkannte Jean sofort, sie gehörte Sebastian Gnib-bom, einem Jungen, der Jean am meisten und am liebsten ärgerte und Jean hasste ihn dafür, unternahm dagegen jedoch gar nichts, weil Sebastian ihn bisher nicht angerührt hatte, er versuchte ihn andauernd nur, so gut es ihm seine Phantasie erlaubte, mit Worten zu verletzen. Worte waren aber kein Grund, jemanden an die Wäsche zu gehen, für Jean jedenfalls nicht.
"Hallo, Sebastian", grüßte Jean, bemüht freundlich zu klingen, zurück.
"Hast du dein Wecker nicht gestellt?", fragte Sebastian laut rufend und kam die Treppe zu den Toiletten runter auf Jean zu.
"Ja, stimmt."
Sebastian fing an zu lachen. Er war ein großer Junge, zwei Köpfe höher als Jean und mindestens zweimal so breit. Durch seine buckelartige Haltung, seine große Nase, die den meisten Platz in seinem Gesicht einnahm und durch die dicken, schwarzen Augenbrauen wirkte er wie ein dumm dreinblickender Troll.
"Du bist der letzte Trottel", sagte er und ging lachend an Jean vorbei und verschwand lachend in der Cafeteria. Jean wünschte ihm einen schlimmen Unfall.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sich das Mädchen, mit dem in Leder gebundenem Buch, von der Bank erhob und langsam auf den Eingang des Schulgeländes zutrottete. Das alte Buch hielt sie unter ihrem Arm geklemmt und wickelte mit den Händen etwas aus, das aussah, wie ein Kaugummi in Größe eines Geldscheines. Kurz vorm Eingang blieb sie stehen und biss ein Stück von dem Kaugummi ab, sie kaute einen Moment darauf rum und schluckte es runter, den Rest wickelte sie wieder in das Papier ein, aus welchem sie es ausgewickelt hatte und steckte es in die Innentasche ihrer kurzen Jeansjacke. Jean beobachtete sie, wie sie über den Schulhof schlenderte und in der Cafeteria verschwand. Er sah sich ein letztes Mal auf dem Schulhof um und folgte ihr. Es fing gerade an zu regnen, als er in den warmen Saal mit den vielen Tischen und einigen Schülern eintrat.
[Text wurde geaendert (13:29:43 08.12.2002) von Kidswebautoren]
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