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13.02.2007
» Verschiedenes » Der Kuss des Ozeans
NR
Miron folgte dem Ruf des Meeres und lief hinaus zur Halbinsel, wo der alte Leuchtturm in den Nachthimmel ragte. An der äussersten Spitze konnte man als erstes die Schiffe am Horizont auftauchen sehen. Schon lange hatte kein Feuer mehr auf dem steinernen Monument gebrannt, vergessen von den Fischern, die heute in anderen Gefilden auf Fang fuhren. Nur noch selten verirrte sich jemand an diesen einsamen Platz, doch Miron mochte die Einsamkeit, sie lud ihn zum Nachdenken und Träumen ein. Obwohl er einen langen und anstrengenden Tag auf dem Fischerboot hinter sich hatte, war er von einer inneren Unruhe gepackt worden, eine Sehnsucht nach dem Meer, die er zu stillen versuchte. Miron kannte den Weg so gut, dass er ihn beinahe blind fand. Jeder Tritt brachte ihn näher zu der versteckten Stelle, an dem die Wellen sich nicht an den schwarzen Felsen brachen, sondern sanft auf einem kleinen Strand ausliefen. Das Rauschen und Tosen der Brandung beruhigte ihn. Nachts war das Wasser so anders, lockte mit seinen Geheimnissen, die sich in dessen Tiefen verbargen.
Der junge Fischer war mit dem Ozean aufgewachsen. Wenn sein Vater ihn früher verprügelt hatte, weinte er sich am Meer aus und sah dabei stundenlang aufs Wasser hinaus, als gäbe es dort, hinter dem Horizont, eine bessere Welt. Die Wellen hörten geduldig seinen Klagen zu und lullten ihn ein. Das Meer war schon immer sein zu Hause gewesen, auch jetzt, auf dem Fischerboot. Dort war er dem Horizont am nächsten.

Der Leuchtturm warf einen breiten Schatten auf den Sand, sodass Miron den anmutigen Schemen erst gar nicht bemerkte, welcher regungslos in die Ferne blickte. Die Wolken, die den Mond verdeckt hatten, drifteten weiter, fort in die Finsternis. Das bleiche Licht, welches sich auf dem Wasser spiegelte, liess Miron erkennen, dass es eine junge Frau war, die einen langen Umhang trug. Überrascht, eine andere Seele hier anzutreffen, näherte er sich ihr.
„Hast du keine Angst, dich nachts hier alleine herumzutreiben?“
Die Gestalt erschrak und wich zurück, als sie Miron neben sich bemerkte, so sehr war sie in ihren Gedanken vertieft gewesen. Sie versteckte ihr Gesicht tiefer unter der Kapuze.
„Keine Sorge, ich tu dir nichts. Ich bin nur ein Fischer, der dieses Plätzchen mag“, beruhigte er sie. „Du scheinst etwas zu vermissen. Ist es... das Meer?“
Sie antwortete nicht und zückte stattdessen ein Messer. Überrascht trat Miron ein paar Schritte zurück. Im Licht des Mondes sah er, dass die Frau verschleiert war und nur die Augen sichtbar waren. Doch eben diese Augen verschlugen ihm den Atem. Trotz der Dunkelheit konnte er das Meer in ihnen sehen, als wären sie lebendig wie die Wellen. Schweigend sahen sich die beiden an.
„Du... du hast schöne Augen“, war das einzige, was Miron stotternd herausbrachte. Die Frau senkte traurig das Messer.
„Geh“, sagte sie leise, „Vergiss mich und diesen Augenblick.“ Miron war verwirrt. Und noch ehe er etwas erwidern konnte, lief sie weg.
Er eilte ihr nach, doch die junge Frau bewegte sich wie fliessendes Wasser, geschmeidig und schnell.
„Warte doch!“, rief er. Zögerte sie? Miron wusste, dass er in dem Moment, als er ihr in die Augen geblickt hatte, sein Herz an sie verloren hatte. Und die Hoffnung gab ihm die Kraft sie einzuholen. Er fasste sie am Arm, nicht hart, aber fest genug, dass sie ihm nicht entgleiten konnte.
„Bitte, lass mich los!“ Sie hätte ihn leicht mit dem Messer töten können, aber aus irgendeinem Grund tat sie es nicht. Miron löste den Griff und nahm sie sanft an der Hand. Sie wehrte sich nicht. Ihre Hand war kühl, die Haut seltsam glatt und doch angenehm. Sie standen sich nahe, sodass er sie riechen konnte. Ihr Duft erinnerte ihn an Meerwasser, salzig - mit einem leicht bittersüssen Geruch. Was fesselte ihn so an ihr? War es die unendliche Weite des Ozeans, die er in ihren Augen gesehen hatte? War es die Sehnsucht nach einer Freiheit, die es für ihn nicht gab? Etwas in Miron erinnerte sich. An was? Er fand es nicht heraus.

„Ich bin Miron. Und was ist dein Name?“
„Aliyah.“
„Ein schöner Name.“
Fiebrig überlegte Miron, was er sagen sollte, aber ihm fiel nichts ein. Er liess es bleiben. Nicht immer war es gut zu reden, manchmal war es besser zu schweigen. Er sog den Augenblick der Stille mit allen Sinnen ein, so intensiv, dass er beinahe davon überwältigt wurde. Die Wellen schienen zu flüstern, aber er konnte sie nicht verstehen. Aliyah verstärkte den Händedruck, als wollte sie sich an etwas festhalten um nicht fort zu treiben. Miron hob seine Hand zu ihrem Schleier.
„Lass mich dein ganzes Gesicht sehen.“
Aliyah drückte sie weg. „Tu es nicht, bitte!“
„Weshalb? Was hast du zu verbergen?“
Sie antwortete nicht.
„Bist du so unansehnlich? Hast du eine hässliche Narbe, dass du denkst, du würdest mir dann nicht gefallen?“
Aliyah schüttelte betrübt den Kopf. „Es ist keine Narbe. Aber wenn ich es dir zeige, würdest du dir wünschen, es nicht gesehen zu haben.“ In ihrer Stimme lag eine Spur von Hoffnungslosigkeit, und dennoch klang sie verführerisch.
„Du hast so schöne Augen, dass nichts mich abschrecken könnte.“
„Ich bitte dich nochmals, tu es nicht. Du darfst es nicht sehen.“
„Was darf ich nicht sehen? Ich will es wissen!“
Sie seufzte. Ihre Augen glänzten feucht. Sie wollte etwas erwidern, aber ihre Stimme versagte. Miron ergriff sachte den Stoff und zog ihn weg.
Eine Reihe messerscharfer Zähne klafften ihm entgegen. Erschrocken schnappte Miron nach Luft.
„Du bist eine Meerjungfrau!“, rief er überrascht aus. Aber hatte er es nicht schon geahnt, als er ihre Hand nahm, ja, schon als er ihre Augen erblickt hatte? Als Fischer kannte er unzählige Geschichten von diesen Wesen. Sagen von Seeleuten, die von Meerjungfrauen in die Tiefe gezogen wurden, Fischer, die von ihnen geküsst wurden und im Meer verschwanden. Gerüchte von menschenfressenden Mischwesen, von gefährlichen Schönheiten. Beschreibungen von singenden Fischfrauen, die mit ihrem verführerischen Gesang lockten. Hatte er nicht selber schon auch das Glitzern von Körpern gesehen, die zu gross für Fische waren? Wendige Leiber, die sofort wieder in den Tiefen verschwanden.
„Du bist eine Meerjungfrau“, wiederholte Miron immer noch ungläubig.
„Nicht ganz. Mein Vater war ein Mensch“, wisperte Aliyah beschämt. „Die Nereiden verachten mich. Sie sagen, ich sei nicht würdig. Ich darf das Wasser, ihre Domäne, nicht betreten.“
„Wieso? Du bist doch eine von ihnen.“
„Sie hassen die Menschen, und ich habe Menschenblut in mir. Deshalb glauben sie, ich sei schwach.“
Wortlos trat sie ans Ufer. Nur wenige Schritte trennten sie vom Wasser, aber sie konnte die Grenze nicht überschreiten.
„Sieh, die Macht der Nereiden hält mich ab. Schau nur, das Wasser!“
Miron konzentrierte sich, aber zuerst bemerkte er nichts. Dann sah er es, ein feines Kräuseln, ein aufgebrachtes Wirbeln der Wellen. Er hörte ihr wildes und bösartiges Flüstern und schauderte.
„Das sind sie!“ Aliyah sprach kaum hörbar. Hatte sie Angst?
„Es tut mir leid“, sagte Miron.
„Was? Dass du nun mein Geheimnis kennst?“
„Nein, dass ich dir nicht helfen kann.“
Aliyah schluckte und wandte ihren Kopf ab. Miron legte sanft den Arm um sie. Aliyah konnte sich nicht länger halten und begann hemmungslos zu schluchzen. Sie schmiegte sich an ihn.
Miron wusste nicht, wie viel Zeit so verstrich. Schliesslich fasste sich Aliyah wieder. Miron sah hinauf in den Himmel, dann liess er den Blick zum Horizont gleiten, der unsichtbar in der Ferne lag. Er schob Aliyahs Kapuze zurück und strich ihre langen, welligen Haare zur Seite.
„Nein!“, hauchte sie fassungslos. Doch Miron beugte sich vor und küsste sie. Der Schrei der Verzweiflung und des Schmerzes kam nie aus Aliyah heraus. Sie wollte schreien, als ihr Herz zerriss, aber sie konnte es nicht. Aliyah schloss ihre Augen, um Mirons entsetzten Gesichtsausdruck nicht sehen zu müssen, als sie ihre Zähne zuschnappen liess. Die Bestie in ihr raste ungebändigt und berauscht.
Die Tränen wollten nicht aufhören zu fliessen, als sie mit blutverschmierten Lippen den leblosen Körper Mirons umschlang und ins Meer hinaus trat. Salzwasser umspülten ihre Beine, an denen winzige Schuppen wuchsen. Doch schon bei der ersten Berührung mit dem Wasser wusste sie, dass es falsch war. Sie konnte nie eine Nereide werden, auch wenn keine Grenze mehr bestand. Noch konnte sie zurück. Aber sie schritt mutig weiter und liess sich vom schweren Leichnam Mirons in die Tiefe ziehen. Ein letztes Luftbläschen glitt aus ihrem offenen Mund, bevor der Ozean endgültig Besitz von ihr und Miron ergriff. Die Wellen verstummten und das Wasser über ihnen glättete sich.
alles lesen | 0 Kommentare | Milä | Pizzalizza@diddlpost.de
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