Eine Geschichte von Christina
Schneider, 15 Jahre aus Deutschland
Wolken fühlen
Das Mädchen saß auf der braun
gestrichenen Holzbank. Ihr Blick war auf die
vorbeischwebenden Wolken gerichtete, sie sah in der Wolke
einen Adler. Dann löste er sich auf und wurde zu einem toten
Pferd, dass in ein Meer fiel. Dem Pferd hing die Haut von
den Knochen ab. Eine Stechmücke landete auf dem Arm des
Mädchens. Sie schlug mit der flachen Hand auf die Schnake
und rieb sie dann an der braun gestrichenen Holzbank ab.
Dann tat es ihr leid. Eigentlich hatte die Stechmücke ihr ja
gar nichts getan. Sie hatte nur auf dem Arm des Mädchens
gesessen. Und jetzt klebte sie an der Armlehne der Holzbank.
Jetzt war die Wolke wieder
ein Vogel. Allerdings kein Adler. Eher ein Falke. Oder ein
U-Boot. Das Mädchen schloss die Augen. Aber da sah sie
wieder den blauen Drachen. Sie riss die Augen wieder auf.
Die Nachbarn stritten schon wieder.
"Ciné!" Das Mädchen tat so,
als hätte sie dir laute Stimme ihrer Mutter nicht gehört.
"Ciné! Was machst du da? Ich
habe dich doch gebeten das Abendessen zu machen! Aber das
ist ja zu viel verlangt! Das Einzige, was in deinem Kopf
ist, ist dieser Julian!"
Die Mutter des Mädchens
sprach den Namen mit solch einer Verachtung aus, dass selbst
Ciné schauderte. Das Mädchen widersprach ihrer Mutter nicht,
dachte, sie solle nicht so reden, als hätte sie im
Entferntesten eine Ahnung von den Gedanken ihrer Tochter.
Ciné sah auf und sah direkt in das Gesicht eines Jungen.
"July, hi, schön, dass du
hier bist!" Ciné und der Junge setzten sich nebeneinander
auf die braun gestrichene Holzbank.
"Was siehst du?" Ciné wusste
nicht, wie lange sie jetzt schon neben Julian auf der Bank
saß. "Ich?" Julian riss seine tiefblauen Augen auf und
starrte Ciné an.
"Ich sehe das Liebste,
Komplizierteste, Süßeste..."
"July! Was du siehst! Nicht,
was du mit deinen Augen siehst!"
"Hm, ich sehe, dass ich weder
weiß, was ich sehe, noch, dass ich weiß, was du erwartest,
dass ich sehe!" Aber nach ein paar Sekunden fing er wieder
an.
"Also, ich sehe, dass ich
dich liebe!" Da öffnete das Mädchen ihre Augen und gab dem
Jungen einen zarten Kuss auf die Wangen. Julian legte seinen
nicht wirklich sehr muskulösen Arm um Cinés Schultern. Das
Mädchen sah wieder hoch zu dem U-Boot im Himmel. Als das
U-Boot ein Drachenkopf mit Hundekörper war, klopfte Ciné
sich den Hintern ab und öffnete ihren Haarzopf.
"Ich gehe schwimmen. Kommst
du mir?" Nach kurzem Überlegen nickte er und stand ebenfalls
auf. Ciné griff nach der zum Trocknen geöffneten
Reisetasche, rief ihrer Mutter ein kurzes "Ich geh'
schwimmen!" zu und drückte Julian die Tasche in die Hand.
Der nahm sie, schwang sie sich über die Schultern und legte
einen Arm um Cinés Taille. Gemeinsam gingen sie zu dem
Freibad. Es war das Einzige in der zu klein geratenen
Großstadt.
Sie setzten sich auf ihren
Stammplatz auf der großen Wiese. Es waren nur wenige Leute
im Schwimmbad. Ciné entdeckte ihre Klassenkameradin und
ehemalige Freundin Jana. Sie war mit ihrer dreijährigen
Schwester Tine in dem Anfangsbereich des
Nichtschwimmerbeckens. Julian breitete ein großes Badetuch
mit Kuhmusterung aus und drückte Ciné ihren Bikini in die
Hand. Sie gingen sich umziehen und sprangen dann, wie immer,
vom Startblock und machten ihr übliches Wettschwimmen über
zwei Bahnen. Und wie immer gewann Julian mit drei Meter
Vorsprung.
"Hey! Schäfer!" Julian drehte
sich um. Hinter ihm standen drei Typen, die etwa in Julians
Alter waren und grinsten ihn dämlich an.
"Hi Schmidt, Paul, Weber!"
Einer der Jungen starrte Ciné an.
"Hallo schöne Frau!" Ciné
reagierte nicht auf die Begrüßung und stützte sich auf
Julians Schulter.
"Hallo? Ich habe hi
gesagt!""Ich nicht."
Da lehnte sich der Typ
amüsiert an Julians andere Schulter.
"Das ist Ciné Koenig. Ciny,
das sind Marco, Benny und Jake!", stellte Julian an Cinés
Stelle vor. Der Typ, den Julian als Benny vorgestellt hatte,
hielt Ciné lächelnd die Hand hin. Ciné war durch die
plötzliche Höflichkeit irritiert, gab Benny aber trotzdem
die Hand. Da tauchte der sie mit einer Hand unter. Ciné
hörte unter Wasser sein Lachen. Es war wie damals. Panisch
strampelte sie und wollte sich befreien. Sie schrie- doch es
stiegen nur ein paar Luftblasen auf. Warum tat Julian denn
nichts? Ciné verzweifelte. Sie würde sterben.. Dieses mal
würde sie sterben. Sie hatte einmal Glück gehabt, aber jetzt
würde sie sterben. Plötzlich wurde sie hochgerissen. Hustend
fiel sie Julian in die Arme. Der stütze sie und zog sie
schnell aus dem Wasser. Aus den Augenwinkeln sah Ciné, wie
Blut aus Bennys Nase in das Schwimmbecken tropfte. Hustend
und zitternd lies Ciné sich auf das Badetuch fallen. Julian
wickelte sie in ein Handtuch und drückte Ciné fest an sich.
"Hey, es ist alles okay,
Kleine. Ich bin ja da, Ich passe auf dich auf. Mensch,
Mäuschen, bitte nicht heulen!" Julian wischte Ciné bedrückt
eine Träne vom Gesicht.
"July, ich habe solche Angst!
Was, wenn er es wieder tut?"
"Er wird es nie wieder tun!
Das schwöre ich dir!" In Cinés Kopf spielte sich immer
wieder die gleiche Szene ab: Ihr Cousin Danny, der sie
vergewaltigt und dann ertränken will.
"Hey, es wird alles wieder
gut! Danny ist im Gefängnis und da wird er auch bleiben!"
Ciné wischte sch die Tränen weg und legte sich auf das
Badetuch. Julian sah sie lange an. Er liebte Ciné. Und Ciné
liebte ihn.
"Wie sich Wolken wohl
anfühlen?"
"Ich... ich weiß nicht..."
"Irgendwann werden wir es
bestimmt wissen, July. Irgendwann können wir Wolken fühlen!"
"Okay ihr könnt gehen!" Die
ganze Klasse 9c stürmte aus ihrem Klassensaal. Ciné packte
langsam ihr Mathebuch in ihren sandfarbenen Eastpack-
Rucksack. Da kam Julian in die bis auf Ciné und ihren
Mathelehrer leere Klasse. Er gab ihr einen Begrüßungskuss.
"Äm, guten Tag Dr. Fischer!",
begrüßte Julian schnell seinen Physikleistungskurslehrer.
"Guten Tag, Julian!" Dr.
Fischer sah kritisch von Julian zu Ciné. Die schlug sich
schnell ihren Rucksack auf dem Rücken, nahm Julians Hand und
verließ die Klasse. Dr. Fischer sah ihnen neugierig nach.
"Na, wie geht es, Kleine?"
Ciné überlegte. Wie ging es ihr denn? Das wusste sie selber
nicht so genau.
"Ich meine wegen gestern im
Schwimmbad..." Ciné bemühte sich um ein nicht müde wirkendes
Lächeln.
"Mir geht es gut!" Da
versuchte auch Julian zu lächeln. Aber er wusste, dass es
Ciné alles andere als gut ging. Er kam drei Wochen vor der
Vergewaltigung mit ihr zusammen und wusste, wie sehr sie
sich verändert hatte. Und auch nach zwei Jahren war sie noch
nicht darüber hinweg. Auch wenn sie immer tat, als ob sie es
wäre.
"Und, was machen wir jetzt?",
fragte Julian schnell, um das Thema zu wechseln. Er nahm
Cinés Hand und sah sie erwartungsvoll an.
"Ich gehe ins Schwimmbad!
Kommst du mit?"
Seit dem Vorfall waren Ciné
und Julian fast jeden Tag Im Schwimmbad. Sie fühlte sich
dort immer sicherer als an andern Orten.
"Ja... klar! Mensch, Ciny, du verwirrst mich!" Ciné lachte.
"Ich mich auch!"
Ciné warf ihre Schultasche
auf die Wiese und setzte sich neben Julian hin.
"Was guckst du denn so
bedripst, mein Held?", fragte Ciné und lehnte sich an ihn.
Julian sah sie daraufhin lange an, sagte aber kein Wort.
Trotzdem verstand Ciné. Sie schwieg zurück. Er küsste sie.
"Schäfer, du Penner!" Julian
sah Benny schräg mit einem Du-störst-Blick an.
"Kommst du mit, der Zehner
ist endlich wieder freigegeben!" Ciné sah Julian tief in die
Augen. Sie wusste, welche heimliche Angst er vor dem
Springturm hatte.
"Ja, okay. Ich komme gleich!
Geh schon mal vor!"
Als Benny sich umgedreht hatte, rief Ciné gleich "spinnst
du?! Willst du jetzt deine Männlichkeit beweisen oder wie?"
"Dir doch immer!"
"Julian, das meine ich Ernst!
Bitte lass die Scheiße. Für mich, okay?"
"Ciao Ciné. Ich liebe dich!"
Mit einem flüchtigen Kuss verabschiedete er sich von Ciné
und lief Benny hinterher. Kopfschüttelnd sah Ciné auf den
Springturm, als die Beiden hochkletterten. Innerlich musste
sie dann doch grinsen.
"Männer und ihr Ego, Teil
fünf..."
"Was?"
Ciné sah sich erschrocken um.
Neben ihr stand Fay, eine Klassenkameradin von ihr. Sie
begrüßten sich und Fay setzte sich zu Ciné auf das Badetuch.
"Damit war eben mein Freund
gemeint, der jetzt unbedingt beweisen will, was für ein
toller Kerl er doch ist!"
"Der auf dem Zehner?" Ciné
nickte.
"Genau d..." Die Worte
bleiben ihr im Halse stecken. Sie hörte ein Mädchen
schreien. Ciné starrte wie gelähmt auf den Springturm.
"Oh mein Gott!", rief eine
weibliche Person mit einer schrillen und hysterischen
Stimme. Ciné atmete nicht. Sie starrte nur auf den
Springturm.
"Ciné! Hey! Schnell, wir
müssen..." Fay zog Ciné am Arm hoch und zerrte sie hin zu
dem Betonplatz neben dem Springturm. Eine Menschenmasse
hatte sich gebildet, einige schrieen, andere fingen an zu
heulen. Fay zog Ciné näher. Dann blieb sie wie versteinert
stehen. Ihr Blick war fest auf den Boden gerichtet. Auf die
Person auf dem Boden. Blut färbte den Betonbuden rot.
"Lasst mich durch", schrie
jemand, "ich bin Bademeister! Lasst mich durch!" Er boxte
Ciné zur Seite und kniete neben dem Jungen nieder.
"Ruft doch endlich einen
Krankenwagen! Schnell!" Ein Mann nickte und lief zu seiner
Badetasche. Mit zittrigen Schritten ging Ciné zu dem Jungen
und kniete sich auch hin.
"Julian, das kannst du mir
doch nicht antun! Du musst durchhalten, ja? Bitte! July,
bitte!", heulte sie verzweifelt. Tränen tropften auf den
Boden und vermischten sich mit dem unaufhörlich fliesenden
Blut.
"Du kennst den Jungen?"
"Ja, es ist mein Freund!
Julian. Bitte machen Sie doch etwas! Bitte! Er darf doch
nicht sterben. Sie müssen etwas tun! Er verblutet sonst!"
Ciné nahm Julians Hand und drückte sie an sich. Sie legte
ihren Kopf auf seinen Bauch. Blut rann über ihre Hände. Sie
hörte eine Sirene und kurz darauf sprangen zwei Männer zu
ihnen.
"Was ist passiert?"
"Er wollte vom Zehner springen und ist ausgerutscht. Er fiel
die Treppen wieder runter!", erzählte eine Frau schnell. Ein
Notarzt nahm Ciné an den Schultern und zog sie von Julian
weg.
"Defi, schnell!", rief er
dann, als er sich zu Julian hinuntergebeugt hatte. Ciné
wusste, was das zu bedeuten hatte.
"Bitte, er darf nicht
sterben! Ich brauche ihn doch noch! Ich liebe ihn doch so
sehr! Über alles. Bitte tun sie doch etwas! Julian! July, du
darfst nicht sterben! Du musst durchhalten!" Ciné zitterte
am ganzen Körper.
"Nimm du mal das Mädchen!"
rief der Notarzt zu dem Sanitäter, der daraufhin seinen Arm
um Cinés Schultern legte und sie sanft aber bestimmt von
Julian wegzog.
"Kannst du mir etwas über ihn
erzählen? Er ist dein Freund, oder?"
"Ich habe ihn doch so lieb!
Bitte, sie müssen ihn retten!"
"Wie heißt er denn? Und wie
heißt du?"
"Julian Schäfer. Und ich bin Ciné Koenig", stammelte sie und
drehte sich immer wieder zu Julian rum. Was war denn los?
Warum ließ der Mann sie nicht zu ihm?
"Hast du die Telefonnummer
von Julians Eltern?" Ciné erklärte ihm, dass Julians Mutter
bei einem Autounfall vor drei Jahren starb und dass sein
Vater auf einer Ölbohrinsel lebte.
"Er wohnt mit seinem Kumpel
Daniel zusammen in einer WG. Warum kann ich nicht zu ihm? Er
ist doch mein Freund! Ich liebe ihn doch!"
"Hör mal, Mädchen. Wir
bringen deinen Freund jetzt ins Krankenhaus und du kannst ja
nachkommen. Es ist das Beste, wenn er jetzt erst einmal
seine Ruhe hat. Das verstehst du doch sicher. Glaub mir, du
hilfst ihm so am allermeisten. Wir bringen ihn in die
Universitätsklinik Mainz. Geh nach Hause und bitte deine
Mutter dich hinzubringen, ja?"
Der Sanitäter wurde gerufen.
Aufmunternd lächelte er sie an und lief dann los. Der
Notarzt hatte Julian bereits auf eine Trage gehoben und
brachte ihn nun mit Hilfe des Sanitäters in den
Krankenwagen. Ciné fühlte sich, als hätte man ihr den Boden
unter den Füßen weggezogen. Es konnte nicht sein! Sie hatten
doch eben noch miteinander geredet!
"Ciné!" Die Gerufene drehte
sich um. Und sah in das blasse und übermüdete Gesicht ihrer
Mutter. Ciné fiel ihrer Mutter in die Arme und begann zu
weinen. Sie hörte gar nicht mehr auf.
Als ihr Kopf so sehr
schmerzte, dass sie das Gefühl hatte, er würde gleich
explodierten, löste sie sich wieder von ihrer Mutter.
"Ich fahre dich ins Krankenhaus!" Cinés Mutter fuhr eine
Abkürzung zur Uniklinik, in der sie als Oberschwester in der
Endbindungsstation arbeitete.
"Hallo Anne. Hast du heute
nicht frei... Ciné! Wie siehst du denn aus?"
"Tanja, kannst du mir sagen,
wo ein Julian Schäfer liegt?" Die Krankenschwester am
Empfang dachte kurz nach.
"Julian Schäfer... der ist
noch im OP. Dr. Ritter operiert. Der Junge sah echt nicht
gut aus. Wieso fragst du, kennst du ihn?" Ciné brach weinend
zusammen. Es war alles zu viel. Julian würde sterben.
"Wenn Julian stirbt, will ich
auch nicht mehr leben!"
Cinés Mutter antwortete
nicht, sondern zog ihre Tochter zum Warteraum vor den
Operationssälen. Ein paar Kinder spielten mit Plastikbaggern
auf dem Gang.
"Ich liebe ihn doch so sehr,
Mama!" Frau Koenig sah Ciné lange an und drückte Ciné dann
an sich.
"Es wird schon wieder! Julian
ist doch ein zäher Kerl, der schafft es schon!" Ciné nickte
unsicher. Vielleicht hatte sie ja recht. Julian hatte noch
nie bei etwas aufgegeben. Er würde sein Leben auch nicht
einfach aufgeben!
Als ein Mann in blauem Kittel
aus der Tür trat, an der groß "betreten verboten" stand,
sprang Ciné schnell auf.
"Wie geht es Julian?"
"Ciné, du kennst den Patienten?" Ciné nickte und sah Dr.
Ritter, den sie schon seit ihrer Kindheit kannte, an.
"Wir halten ihn in einem
künstlichen Koma. Seine Kopfverletzungen sind gravierend und
es ist das beste, wenn sein Körper jetzt so wenig wie
möglich belastet wird!"
"Wird... er wieder...
gesund?" Es kostetet Ciné alle Überwindung, diese Frage zu
stellen, weil sie sich so sehr vor der Antwort fürchtete. Es
kam ihr alles vor wie ein Film. Sie spielte zwar die
Hautrolle, musste aber tun, was jemand ihr sagte. Es war wie
in eine billigen Krankenhausserie, die Dienstagsmorgens um
halb zehn auf irgendeinem Privatsender lief.
"Das kann ich zu diesem
Zeitpunkt leider noch nicht mit Gewissheit sagen! Sein
Gehirn wurde stark beschädigt."
"Kann ich zu ihm? Bitte! Ich
muss ihn sehen!", fragte sie bettelnd.
"Hm, okay, aber nur ganz
kurz! Und erschrick nicht, es sieht schlimmer aus, als es
ist! Die ganzen Geräte sind nur zur Kontrolle da!" Von Dr.
Ritter begleitet betragt Ciné das Zimmer in der
Intensivstation. Sie war mit diesen Räumen schon vertraut.
Sie hatte ihr Schulpraktikum im Krankenhaus gemacht. Aber
als sie in dieses Zimmer kam, war alles anders als in ihrer
Erinnerung. Überall waren große Geräte. Der ganze Raum war
voll damit. Diese Geräte hielten Julian am Leben! Ciné
traute sich gar nicht, zu Julian zu gehen. Er war ihr so
fremd.
"Geh ruhig hin und sprich mit
ihm! Vielleicht kann er dich ja hören!", forderte der Arzt
sie auf und ging wieder aus dem Zimmer. Ciné atmete tief
durch, nahm all ihren Mut zusammen und ging langsam zu
Julian. Er hatte einen breiten Verband um den Kopf. Sein
Hals wurde durch eine Krause fixiert und seine beiden Arme
waren eingegipst und lagen auf der Bettdecke. Ciné
streichelte seinen Handrücken und kniete neben dem Bett
nieder.
"July, ich weiß nicht, ob du
mich hören kannst. Aber ich will, dass du weißt, dass ich
dich über alles liebe. Egal was passiert. Wir gehören
einfach zusammen. Bitte gib nicht auf, ja? Du musst kämpfen!
Atme! Mach die Augen auf! Bitte! July..." Cinés Stimme
versagte. Sie ließ ihren Kopf auf Julians Bauch sinken und
konnte ihre Tränen nicht länger unterdrücken. Sie hörte gar
nicht mehr auf zu weinen.
"Ciné, es wäre für euch beide
besser, wenn du jetzt nach Hause gehen würdest! Leg dich hin
und versuche, ein bisschen zu schlafen. Du kannst morgen
früh gerne wiederkommen, wenn du möchtest!" Apathisch nickte
Ciné. Ihr Kopf schmerzte, als würde er gleich explodieren.
Sie rannte schnell an ihrer Mutter vorbei zu den Toiletten.
Als Cinés Mutter am nächsten
Morgen die Küche betrat, fand sie ihre Tochter dort vor.
Total verheult, mit roten Augen und einer Kaffeetasse in der
Hand. Frau Koenig setzte sich wortlos zu ihr hin. Erst nach
einigen Minuten brach sie das schweigen.
"Papa hat angerufen. Er will
heute mit Jaimee vorbeikommen!"
Seit Cinés Vater mit ihrer
zwölfjährigen Schwester Jaimee ausgezogen war, kam er sie
fast jede Woche besuchen. Ciné nickte und stand auf. Sie
ging in ihr Basezimmer und versuchte, ihre Augenröte zu
verdecken. Erst als es an der Haustür klingelte, verließ sie
das Bad wieder.
"Papa fährt doch zu Julian!",
teilte Frau Koenig ihrer Tochter mit. Von Jaimees
mitleidigen Blick gefolgt, verließ Ciné mit ihrem Vater das
Haus.
"Na, meine Große, wie geht es
dir?"
"Papa, es ist so schrecklich!
Julian ist doch erst siebzehn! Man muss ihm doch helfen
können, wir leben doch im einundzwanzigsten Jahrhundert! Ich
liebe ihn doch so sehr! Ohne ihn kann ich nicht leben,
verstehst du das? Er ist der Einzige, der mich versteht! Ich
kann es gar nicht begreifen. Wir haben uns doch gestern noch
getroffen. Es kann gar nicht sein! Warum denn gerade Julian?
Was hat er denn schlimmes getan?! Warum ist Gott ihm böse?
Er reißt uns auseinander! Ich fühle mich so leer und
verlassen!" Da fing Ciné wieder an zu weinen. Sie konnte es
einfach nicht verstehen. Würde Julian sterben müssen? Und
was würde dann aus ihr werden?
Cinés Vater sagte nichts und
suchte auf den großen Parkplatz vor dem Krankenhaus einen
freien Platz.
"Hallo Ciné. Na, hast du
etwas schlafen können?" Ciné schüttelte den Kopf und fragte
flüsternd, wie es Julian gehe.
"Wir haben die Medikamente,
die ihn in das künstliche Koma versetzt haben, jetzt
abgesetzt und müssen abwarten, bis er aufwacht!"
"Falls er aufwacht!", schrie
Ciné verzweifelt. Ihr Vater nahm sie in den Arm und
überlegte, was er tröstendes sagen könnte.
"Bitte seihen Sie doch einmal
ehrlich zu mir: Wird er wieder aufwachen?" Der Arzt schwieg
erst und murmelte dann, dass Julians Chancen, den Unfall
unbeschadet zu überleben, gleich null seien.
"Aber ich glaube trotzdem
fest daran, dass er aufwachen wird! Und du solltest das auch
tun. Du weißt ja, dass es nichts bringt, den Teufel an die
Wand zu malen!"
Und Schönreden bringt uns
weiter oder wie, dachte sie sich deprimiert. Dann ließ sie
sich von Dr. Ritter zu Julians Zimmer bringen. Er sah
genauso aus wie am ...
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